BILDER FALLEN
by Boris Nieslony
Bilder fallen. Sie fallen nicht schnell, sie sind in der Dauer und stetig und sie fallen an den Ort wo sie sich Entfalten. An den Ort des Wirkens. Bilder entfalten einen Strom von Emotionen und sie öffnen ganze Kaskaden von Gefühlen wie sie sich auch sprachlich entfalten. Sie, die Sätze, die aus den Bildern entfalteten Worte, liegen schwer im Magen. Die Worte bleiben einem im Halse stecken. Sie sind beklemmend, schnüren einem die Luft ab. Es ist nicht viel von Nöten. Eine eiserne Grundfläche, ca. 1m x 1m, einige Päckchen, aus der Verpackung gelöste Butter und ein Tanz, nicht zu schnell, eher wiegend und von dem Rhythmus einer Musik geleitet.
Dann die Falle.
Eine schmierige Falle. Die Tänzerin fällt, muß fallen. Befreiend, auch etwas hämisch, auch etwas Komik spielt und noch etwas: „es ist doch klar, da muß man doch fallen, hat man schon vorher gewusst“. Kulturelle Selbstgefälligkeit. Doch, sie erhebt sich, tanzt weiter, fällt, steht auf, tanzt, fällt, erhebt sich wieder, bewegt sich im Takt und tanzt , und fällt…
Es kommt etwas entscheidendes zum Tragen. Das stetige Fallen findet nicht am harten Boden sein Ende, das Fallen fällt jetzt tiefer und tiefer, es fällt an dem Ort der Wirksamkeit, wandelt sich zu dem „Bild in der Entfaltung“, die weit über das Bild des ersten Eindrucks, die Oberfläche, hinausgeht.. Dieser Ort ist öffnend, dieses Bild öffnet und entfaltet bei jedem Zuschauenden, bei jedem Zu-Sehenden, den Schmerz in der Magengrube, die Beklemmung in der Luftröhre, nimmt einem den Atem. Physisch greift das Bild in die Psyche und lässt keine Position der Distanz zu.
Das Bild ist wirkend. Die sezierende Untersuchung am lebenden, kulturellen Körper einer sich mehr oder weniger zufällig eingefundenen Gemeinschaft.
Tragend wurde die Dauer, die Wiederholung, das Stetige in diesem „Bild mittels einer Handlung“, das Tragende ist das Fallen in der Dauer. Die paradoxe Kraft der Bilder. Lakonisch die Wahl des Material, die Entscheidung für das Tun, ja gräßlich lakonisch ist diese Falle.*
Bilder ruhen. M. Suryodarmo sitzt auf dem Boden. Ihre Haupthaare, künstlich verlängert zu einem extrem langen Zopf, etwa 11m in der Länge, der sich dann von ihr weg nach vorne schlängelnd auch auf dem Boden ruht. In ihren Armen ruht, liegt schwer eine vollständige Rinderleber. Ein stilles Bild, ein ruhendes Bild, doch die Leber ist schwer, wiegt, glitschig und schleimig, formlos will sie ihr aus den Armen rutschen.
Die Falle. Einfassen, umgreifen, festhalten, immer wieder dem Sog des Entgleitens widerstehen und nachfassen. Auch dieses Bild gleitet in eine andere Tiefe, nicht fallend, nicht stürzend aber in dieser Stetigkeit, in der Dauer wird Zeit geformt, wird sie schmerzhaft gedehnt, entfaltet sich in dem Entziehen und dem Festhalten das Zärtlich-Vergebliche.
Die Leber. Die Wahl des Materials „Leber“. Bilder, die durch ihren kulturellen Hintergrund überlastet sind in der Deutung, können meines Erachtens nicht gelesen, nicht erfahren werden, sondern nur kybernetisch als Information übermittelt werden. Nützt es mir zu wissen, welche Bedeutung die Leber in Bali hat ? Nützt es mir in dem Moment des sehenden Erkennens, welche Rolle die Leber in der Geschichte oder Mythologie einer spezifischen Kultur hat oder hatte ? Ich denke erst mal nicht. Dieses Wissen kann für die beschreibende, erzählende Deutung von Nutzen sein.
Doch in der Wahrnehmung des Geschehenden, die Teilnahme an einem gerade geschaffenem Bild, in der Art und Weise wie ein Bild erzeugt, wie dem Bild der Rahmen des „Sich-Eröffnende“ ermöglicht wird, kommt das zum Tragen, was die Wirkung von Bild ist und dies als kulturbildende Technik mit dem Leib und Körper eines Menschen weltweit. In diesem Sinne wird auch der Ort beschrieben, wo die Wirkung zwischen der Person die entfaltet und dem oder die Zu-Sehenden die sich auch entfalten geschieht. Dieser Ort ist in den Menschen und zwischen den Menschen. Dieser Ort ist transkulturell und transnational. An diesem Ort – zwischen den Menschen -geschieht interkulturelle Begegnung.
Einen Hahn jagen. Einen Hahn durch Haus und Hof, durch Menge und Mensch treiben, ihn durch und in die Köpfe der Umherstehenden jagen bis er Bild bleibt und in der Wahrnehmung sein Leben läßt. Solange es noch solche Bilder gibt, gibt es Mythos.
Die List.
Die List ist, – ganz Wille und ganz Vorstellung – den Mythos als Wirklichkeit zeigen. Der Trick ist, dem Mythos seine Unbezwinglichkeit zu nehmen, ihm abnehmen die Starre, Oberhand und Überhand nehmen, das Bild wird Realität, das Bild ist Sur-Real. Einen Hahn durch eine Menschenmenge jagen, die in die Falle tappt die in der List der Bilder liegt, von den Bildern gelegt, die die List des Wirklichen besitzen und in die Erinnerung fallen und in die Zeit legt.
Es sind die Bilder der M. Suryodarmo, die mich einfangen, zum Zeugen machen und es sind ihre Bilder, die mich nicht mehr loslassen. Diese Bilder sind in mir, wirken in der Dauer, festgesetzt in der Zeit und haben mein Sehen erweitert. Das ist, was von Bildern gefordert werden sollte, egal welches Medium zur Gestaltung genutzt wird. Sie sind das kulturbildende Eigen, das Vermögen in jeder Sichtweise.
*Zum Lesen empfohlen : Daniil Charms “Fälle“
Boris Nieslony
Boris Nieslony
geb.: 02.10.1945 . Studium Akademie der Künste in Berlin
1970 – 1976 Studium der Philosophie, Freie Malerei
Seit 1978 Performance, Performancetheorie, Organisation und Intermedia.
ASA-European / Boris Nieslony www.asa.de
IMAGES FALL
By Boris Nieslony
Images fall. They do not fall quickly; their descent is enduring and steady, unfolding in the place where they manifest, where their presence exerts influence. Images unravel a current of emotions, unleashing cascades of feelings that echo linguistically. These sentences, born of the words unfurled by the images, weigh heavily on the stomach. The words linger, caught in the throat, suffocating, tightening the air.
Little is required: an iron base, approximately one meter square; a few packets of butter freed from its packaging; and a dance—not hurried, but swaying, guided by the rhythm of music.
Then, the trap.
A slippery trap. The dancer falls—must fall. There is something liberating, even mocking in this fall, tinged with a faint humor, accompanied by the thought: “Of course, one must fall; it was obvious from the start.” Such is cultural complacency.
Yet, she rises, dances again, falls, stands up, dances, falls, and rises once more, moving to the rhythm, dancing, falling, and rising…
Something critical emerges. The continuous act of falling does not end at the hard ground; it plunges deeper and deeper, reaching the place of potency. There, it transforms into the „image in its unfolding,“ surpassing the first impression, transcending the surface. This place is one of opening—this image opens and unfolds within every viewer, within every witness, evoking a visceral pain in the gut, a constriction in the throat, stealing one’s breath. The image penetrates the psyche physically, denying any position of detachment.
The image acts. It dissects the living, cultural body of a community—gathered, perhaps, by chance. What sustains this process is duration, repetition, the constancy of this „image through action.“ What carries it is the perpetual falling within the continuum of time. This paradoxical power of images is striking. The choice of material, the decision to act, is disturbingly laconic—a grotesque trap.
Images rest. M. Suryodarmo sits on the floor. Her hair, extended artificially into an extreme braid approximately 11 meters long, snakes forward, resting on the ground. In her arms lies a whole ox liver, heavy and still. A silent image, a resting image. Yet, the liver is burdensome—slick, slimy, formless, threatening to slip from her grasp.
The trap. To enclose, to grasp, to hold, again and again resisting the pull of slippage, reclaiming control. This image, too, slides into another depth—not through falling, not through collapse, but through constancy. Over time, duration shapes and painfully stretches the experience, unfolding in the tension between slipping away and holding on—a tender futility.
The liver. The choice of „liver“ as material.
Images burdened by cultural interpretations, overloaded with historical meanings, cannot, in my view, be fully read or experienced. They transmit only as cybernetic information. Does it serve me to know what the liver signifies in Bali? Does it aid me, in the moment of witnessing, to understand the role of the liver in the history or mythology of a specific culture? I think not—at least not initially. Such knowledge may enrich descriptive, narrative interpretations later.
In the immediacy of perception, the participation in a newly created image—how it is produced, how its frame of „emergence“ is enabled—what truly matters is the image’s impact. This is the essence of image as culture-forming technique, entwined with the body and being of humanity worldwide. This interplay defines the space where the unfolding between the creator and the witness occurs. This space resides within and between people. It is trans-cultural and trans-national.
At this space—between people—intercultural encounters occur.
Chasing a rooster. Driving it through house and yard, through the crowd, through the minds of the onlookers, until it becomes image and surrenders its life in perception.
As long as such images exist, myth persists.
The ruse. The ruse is—entire will, entire imagination—to reveal myth as reality.The trick lies in stripping myth of its invincibility, relieving it of its rigidity, taking command. The image becomes reality; the image is sur-real. Driving a rooster through a crowd that stumbles into the trap laid by the ruse of images, traps set by the cunning of reality, falling into memory, embedding itself in time.
These are the images of M. Suryodarmo, capturing me, transforming me into a witness. These images refuse to release me. They live within me, enduring, fixed in time, expanding my vision.
This is what images must demand of themselves, regardless of the medium employed. They are the essence of culture-building, the capacity to shape perception in every view.
Recommended reading: Daniil Kharms’ “Cases.”
Boris Nieslony
Born: 02.10.1945. Studies at the Academy of Arts, Berlin (1970–1976), Philosophy, and Free Painting.
Since 1978: Performance, performance theory, organization, and intermedia.
ASA-European / Boris Nieslony: www.asa.de
From Loneliness in the Boundaries, Works Catalogue, Melati Suryodarmo, 2006